Kriegslist

Manöver-Humoreske von Karl Tanera
in: „Nebraska Staats-Anzeiger” vom 14.10.1897


Es war ein heißer Tag gewesen. Besonders für die X-ten Jäger. Jäger zu sein, hat freilich seine großen Vorzüge. Wenn man im schmucken grünen Rock zwischen den dunkelblauen Kameraden der Infanterie oder den hellblauen der Dragoner in der Hauptstraße des Städtchens, in dem die Brigade untergebracht ist, umherwandelt, so fällt die außergewöhnliche Uniform doch ganz anders auf; man fühlt sich als etwas Besonderes, und man ist es auch. In einem Jägerbataillon steckt eben ein ganz eigener Geist. Das macht der ausgewählte gute Ersatz an Offizieren und Mannschaft, das macht der vielleicht strengere, aber auch anregendere Dienst, und das machen zumeist die stolzen Kriegserinnerungen der Jäger. Dafür wird man auch hier und da besonders verwendet und z. B. im Manöver einer Cavallerie-Division zugetheilt. Das aber hat, wie man so sagt, den Teufel.

So waren heute die X-ten Jäger kolossal angestrengt worden. Die braven Grünröcke liefen nämlich nur auf je zwei Beinen und sollten doch mit den vierfüßigen Dragonern und Husaren Schritt halten. Durfte man sich wundern, daß Offiziere und Mannschaften bei der Rast nach dem heutigen Corpsmanöver sehr ermüdet im Schatten eines kleinen Buchenwaldes lagen und still warteten, was ihnen nach der Kritik noch blühen werde? Bei den Herren der zweiten und dritten Compagnie rasteten einige Lieutenants der n-ten Dragoner.

Deren Schwadron war beauftragt, mit den beiden Jägercompagnien noch eine Vorpostenstellung zu beziehen und die gegnerische Stellung genau zu recognosciren.

Dann erst durften diese Abtheilungen den übrigen Truppen ins Quartier nachfolgen. Damit sollten die Manöver innerhalb der Corps enden. Der morgige Tag war als Sonntag ein allgemeiner Rasttag, und übermorgen hatten die Manöver eines Corps gegen das andere zu beginnen.

„Na, ich bin froh, daß der Rummel im Allgemeinen heute vorbei ist. Die Scheinvorposten, die wir noch beziehen müssen, werden uns nicht lange aufhalten, und dann beginnt für mich so zu sagen ein Glanzabend, zu dem ich die Herren freundlichst einlade.”

Eine besonders sympathische Stimme war es nicht, nämlich die des Freiherrn von Kastik, die soeben gesprochen hatte.

„Was haben Sie denn vor, Herr von Kastik?” fragte einer der Jägeroffiziere den Dragoner.

„Möchten das wohl wissen, Herr Kamerad?”

„Natürlich, wenn Sie uns dazu einladen.”

„Richtig, richtig. Darin haben Sie Recht. Gedenke nämlich, mich heute Abend zu verloben.”

„Was, Sie wollen sich verloben! Jetzt im Manöver!”

„Gewiß. Habe das Bummelleben satt. Da ich ja, dank dem Bienenfleiße meines Herrn Papa, gar nicht nach Geld und Gut zu fragen brauche, ließ ich die schönsten Mädchen, die im vergangenen Winter unsere Bälle schmückten, vor meinem Innern Revue passiren und sagte mir, die allerschönste ist gerade gut genug für mich. Darauf hin entschied ich mich für Agathe von Farrnheim, wo heute unser Divisionsstab im Quartier liegt.”

Seine Worte brachten große Bewegung in den Kreis der Offiziere. Sie kannten das schöne Mädchen wohl und man wußte allgemein nur zu gut, daß der Vater verschuldet war und Agathe die nöthige Caution zu einer Offiziersehe nicht besaß. Daher regte sich in mancher Dragoner- und Jägerlieutenants-Brust ein gewisser Neid, denn eigentlich gönnte Niemand dem blasirten Baron Kastik ein solches Glück. Allein, was konnte man machen? Man zwang den Aerger nieder und beglückwünschte den Dragoner zwar nicht in sehr herzlicher, aber doch in formvoller Art.

Nur ein alter Jäger-Premierlieutenant sprach lange kein Wort. Er war todtenbleich geworden und starrte mit einem Blick des wahrsten Entsetzens den Dragonerlieutenant an. In der entstandenen Aufregung bemerkte aber Niemand den Schrecken des Jägers und bis sich die allgemeine Bewegung etwas gelegt hatte, hatte sich Premierlieutenant Woltar wieder vollständig in der Gewalt.

Mit ernster und ruhiger, aber in nichts auffälliger Stimme fragte er, als eine kleine Ruhepause eingetreten war: „Haben Sie denn schon das Jawort von Fräulein von Farrnheim erhalten, Herr Kamerad?”

„Direct eigentlich nicht. Aber indirect.”

„Das klingt sehr mysteriös, Harr von Kastik. Wäre es indiscret zu fragen, wie Sie das meinen?”

„Keineswegs, Herr Woltar. Ich habe eine Kriegslist angewendet, um mich möglichst gut bei dem stolzen und bis jetzt so unnahbaren Fräulein von Farrnheim einzuführen.”

„Eine Kriegslist?”

„Ja, Herr Woltar. Sie wissen ja Alle, daß dem alten Baron von Farrnheim die Wucherer drohen, ihn zu ruiniren. Nun habe ich ihm vor drei Wochen vorgeschlagen, sein Gut an mich zu verkaufen. Er ging darauf ein, als ich ihm einen unverhältnißmäßig hohen Preis bot. Nun erklärte ich ihm meine Absicht auf seine Tochter und bat ihn, in meinem Sinne bei ihr zu wirken. Er äußerte, er müsse sehr behutsam sein, weil Fräulein Agathe einen sehr selbstständigen Charakter habe. Unterdessen tauschten wir die Kaufs- und Verkaufsdokumente aus und gestern erhielt ich einen Brief des alten Barons, daß seine Tochter erklärt habe, sie sei einer Ehe mit einem Offizier durchaus nicht abgeneigt. Obwohl mein Name noch nicht genannt wurde, bin ich doch meiner Sache sicher. Fräulein Agathe weiß nämlich noch keine Silbe von dem Verkaufe ihres väterlichen Gutes. Nun schrieb ich dem Baron, daß ich heute Abend um 6 Uhr in Farrnheim eintreffe. Dann erfährt das Fräulein, daß ich der neue Herr des Schlosses und des Gutes bin. Sie wird erschrecken, weil sie sehr an ihrer Heimath hängt. Hierauf lege ich ihr Herz und Hand, Schloß, Gut und die paar Millionen, die Papa mir zu hinterlassen beliebte, zu Füßen, und wir feiern das Verlobungsfest. Das ist die Kriegslist.”

„Also ein Ueberfall.”

„Ja, wenn Sie es so nennen wollen. Aber ein Ueberfall, bei dem der Angreifer nicht raubt, sondern nur bringt und den Ueberfallenen so zu sagen mit Glück überschüttet.”

Der Jägeroffizier hatte schon eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, als das Commando „An die Gewehre” erschallte und damit im Nu jede weitere Unterhaltung abgeschnitten war. Ebenso rief das Signal „Fertig zum Aufsitzen” die Dragoneroffiziere zu ihrer Schwadron.

Die für die Vorposten bestimmten Abtheilungen mußten noch etwa eine Stunde marschiren. Man entfernte sich dadurch immer mehr von dem rückwärts gelegenen Schloß und Dorf Farrnheim. Während des Marsches trat Lieutenant Schort zu seinem mit gesenkten Kopf wie geistesabwesend dahin­schreitenden Freund Woltar, hängte einfach seinen Arm in den des Premierlieutenants ein und begann: „Lieber Freund! Vor allem Kopf in die Höh'! Zum Trübsalblasen hast Du keine Zeit. Wir müssen überlegen, was zu thun ist.”

„Ich habe auch schon alles Mögliche bedacht. Wäre nicht das Commando zum Aufbruch so plötzlich gekommen, so hätte ich dem arroganten Gecken eine solche Beleidigung an den Kopf geworfen, daß er mich hätte fordern müssen. Dann würde es meine Sorge gewesen sein, daß nur ein Bewerber um Agathens Hand übrig geblieben wäre.”

„Jawohl, alter Hitzkopf! Und Du wärst dann auf ein Jahr in die Festung marschirt, hättest vielleicht Deinen Abschied nehmen müssen, denn bei der heutigen Strömung gegen das Duell wäre das in einem solchen Fall gar nicht undenkbar, und dann hättet Ihr euch erst recht nicht gekriegt.”

„Aber was soll ich denn machen?”

„Ich habe meinen Plan bereit. Aber gestehe mir zuerst offen: ist denn zwischen Euch beiden alles in Ordnung?”

„Wie Du es nimmst. Wir sind als Kinder mit einander aufgewachsen, wir lieben einander eigentlich naturgemäß von jeher, und Agathe weiß, daß ich offiziell um sie erst anhalten wollte, wenn ich Hauptmann bin. Sie weiß auch genau, daß uns selbst dann noch viele Entbehrungen bevorstehen. Auch ihren Vater glaubte ich mit all' dem einverstanden, obwohl noch nie Directes über diese meine und Agathens Absichten gesprochen wurde. Also formell gebunden ist sie nicht. Aber ich sah unsere Verbindung eigentlich als selbstverständlich an. Freilich, der alte Baron hat ganz freie Hand. Darum könnte ich es ihm nicht einmal so sehr verargen, wenn er nach dem reichen Gimpel langen wollte, wenn Agathe und ich uns nicht rühren.”

„Gut, Woltar. Nun bin ich klar. Jetzt heißt es: Kriegslist gegen Kriegslist. Höre meinen Plan. Nach dem Aufstellen der Vorposten beichtest Du dem Hauptmann offen und ehrlich und bittest sofort um Urlaub für den Abend und den morgigen Tag. Dann radelst Du, so schnell Du kannst, nach Farrnheim. Um fünf Uhr kannst Du dort sein. In zwei bis drei Stunden bist Du mit Deiner Agathe und dem Baron im Klaren. Rücksichten giebt es keine, hörst Du, Woltar! Keine Spur Rücksicht! Du erzählst, wie taktlos der ekelhafte Kerl von einem Kastik hier renommirt hat, bringst den alten Farrnheim dadurch in Harnisch, daß Du ihm mittheilst, wie jener offen von seinen Schulden sprach, stellst ihm vor, wie unwürdig es wäre, daraufhin seine einzige Tochter so zu verschachern, sagst ihm, daß wir Alle einen solchen Schritt verurtheilen würden u. s. w. Dann bringst Du ihm bei, daß Ihr ja jetzt, wo das Gut so vortheilhaft verkauft ist, heirathen könntet, daß er zu Euch ziehen muß und Anderes mehr. Kurz, bis Abends die Gäste kommen, hast Du Alles in's Reine gebracht und beim Feste selbst wird Eure Verlobung öffentlich verkündet. Ich aber übernehme es, Dir die Bahn frei zu halten. Ich nehme den Kastik auf mich und garantire Dir, daß er vor Abends 9 Uhr nicht auf der Bildfläche erscheint. Ich selbst komme auch erst um 7 Uhr.”

„Was hast Du denn vor?”

„Geht Dich nischt an, Schnuteken. Kriegslist gegen Kriegslist. Willst Du thun, was ich Dir vorgeschlagen habe?”

„Und ob ich es will! Handelt es sich doch um mein größtes Glück.”

„Also auf Wiedersehen heute Abend! Ich verlange jetzt auf eine Stunde Urlaub und radle fort.”

„Wohin denn?”

„Zum Feind! Adieu!”

Damit lief er vor an die Spitze der Compagnie und sprach länger mit dem als Vorpostencommandeur bestimmten Major, der zugleich sein Onkel war. Dann ließ er sich eines der mitgeführten Diensträder geben und hierauf radelte er schnell wie der Wind davon.

Nach etwa einer Stunde waren die Jäger und Dragoner in ihrem Vorpostengelände angekommen. Kaum, daß sie standen, und noch ehe die Offiziere zu einer allgemeinen Instruction zusammengerufen waren, sauste Lieutenant Schort auf seinem Rade daher. Er hatte zwar einen purpurrothen Kopf, allein kein Mensch sah dem strammen Offizier an, daß er in der Gluthhitze des September-Nachmittags in kaum 70 Minuten über 23 Kilometer zurückgelegt und noch dazu mit einem bei den gegnerischen Füsilieren stehenden Freunde gesprochen hatte.

Jetzt rief es: „Die Herren Offiziere!”

Der Major gab den gleich darauf um ihn versammelten Herren die Instruction über das Beziehen der Vorposten. Zum Schlusse bemerkte er: „Es kommt viel darauf an, daß wir noch heute die Ausdehnung des rechten Flügels des Feindes auskundschaften. Ich will daher eine gemischte Patrouille dorthin entsenden. Lieutenant Schort und zwei Jäger, alle Drei auf Fahrrädern, und Lieutenant von Kastik mit zwei Dragonern reiten respective fahren nach Labdorf, dringen im Perzawald bis auf die Höhen von Auflach vor und suchen von dort Einsicht in die feindliche Stellung zu erlangen. Wer ist im Range der Aeltere von den beiden Herren?”

„Ich, Herr Major,” antwortete Lieutenant Schort.

„Gut, so übernimmt Schort das Commando. Die Herren können gleich abgehen.”

Ohne auf die beiden Offiziere noch Rücksicht zu nehmen, sprach der Major noch weiter über dienstliche Verhältnisse. Kastik konnte daher nicht bitten, einen anderen Dragoneroffizier zu entsenden, und Schort rief schnell seine Jäger, setzte sich auf's Rad und fuhr an. Nun mußten Kastik und seine Dragoner eilends nachreiten.

Es war ziemlich weit nach Labdorf. Eine am Rade Schort's vorzunehmende angebliche Reparatur hielt auch auf, und schließlich kam die gemischte Patrouille erst gegen 5 Uhr im Perzawald an. Kastik räsonnirte gehörig über die verd. . . Patrouille, aber Schort tröstete ihn: „Wir wollen schnell die Höhen ersteigen und uns kurz umschauen. Dann sind wir in einer Stunde zurück, und Sie können spätestens 6½ Uhr in Farrnheim sein. Ihre Stute hält ja aus.”

Jetzt standen sie an den mit Büschen bedeckten Höhen. Nun befahl Lieutenant Schort: „Halt! Absteigen. Sie, Herr v. Kastik, ersuche ich ebenfalls abzusteigen, jene Höhe dort zu erklettern und sich in der Rochtung gegen Markweg umzusehen. Ich klettere hier hinauf und recognoscire gegen Eiling. In zehn Minuten bei den Pferden und Rädern wieder sammeln! Pferde und Fahrräder nach rückwärts wenden, damit wir keine Zeit verlieren!”

Beide Oficiere kletterten nun auf die ziemlich steilen Höhen. Es vergingen keine drei Minuten, da ertönte rechts, wo Kastik hinaufgestiegen war, ein lautes „Hurrah”, und es fielen einige Schüsse. Fasr gleichzeitig erschien Schort wieder bei den Pferden und Rädern und commandirte: „Zurück, so schnell Ihr könnt, damit wir nicht auch gefangen werden, wie der Lieutenant von Kastik.”

„Herr Lieutenant, soll ich nicht —”

„Das Maul sollen Sie halten, Dragoner. Nehmen Sie das Pferd des Herrn Lieutenants an die Hand und galoppiren Sie zurück.”

Der Dragoner gehorchte natürlich und jagte, die Stute Kastik's an der Hand führend, mit den anderen Dragonern voraus, die radfahrenden Jäger folgten nach. In etwa dreiviertel Stunden hatte man die zehn Kilometer zu den eigenen Vorposten zurückgelegt. Unterdessen wurde Lieutenant v. Kastik von dem Premierlieutenant Weber des feindlichen Füsilier-Regiments und dessen Leuten festgehalten und trotz seines Remonstrirens zum Vorpostengros geführt. Dort mußte er schriftlich bestätigen, daß er gefangen genommen worden war. dann durfte er wieder zurückkehren.

Er fand aber von seinem Pferd und von den Dragonern nicht eine Spur. Nach Auflach gehen und dort einen Wagen nehmen, konnte er nicht, denn in diesem Dorfe lagen feinmdliche Ulanen, vielleicht sogar ein Brigadestab. Da blieb nichts übrig, als fluchend auf der staubigen Chaussee die zehn Kilometer zu Fuß zurückzuwandern.

Wüthend kam er gegen 8 Uhr Abends im Bivouak seiner Schwadron an. Diese war aber ebenso wie die Jäger schon in's Quartier nach Farrnheim abmarschirt. Nun mußte er noch fast eine Stunde weiter wandern. Dann kleidete er sich in seinem Quartier um und eilte in's Schloß.

Er kam gerade recht, als schallende Hochs den festlich erleuchteten Speisesaal durchbrausten und die Jägermusik einen schmetternden Tusch blies.

„Was ist denn los?” fragte er ziemlich bestürzt den Diener, der ihm geöffnet hatte.

„Unser gnädiger Herr hat soeben die Verlobung der Baronesse Agathe mit dem Jäger-Premierlieutenant Woltar verkündet, Herr Lieutenant.”

„Mit dem Jäger-Premier — ah, ah, ich verstehe.” Darauf machte er kurz Kehrt, sprach kein Wort mehr und verließ schnell das Schloß, ehe ihn Jemand aus dem Festsaal bemerken konnte.

Da drinnen aber ging's lustig zu. Die anwesenden Jägeroffiziere und ebenso ihre Kameraden von der Cavallerie gratulirten dem neuverlobten Paar so herzlich wie selten, denn Jedermann freute sich über das Glück Woltar's und gönnte dem renommistischen Baron Kastik den Korb.

Als einer der Herren nach letzterem frug, antwortete Lieutenant Schort: „Er fiel, wie es scheint, in einen feindlichen Hinterhalt, denn er gerieth bei Auflach in die Gefangenschaft der elften Füsiliere. Vielleicht genirt er sich deshalb zu kommen.” Damit sprach man nicht mehr von ihm. Als später einmal Woltar und Schort einen Augenblick allein beisammen standen, meinte letzterer lustig:

„Na, Freundchen, unsere Kriegslist hat doch geholfen!”

„Sie hat mich zum glücklichsten Sterblichen gemacht und mich Dir zu stetem Dank verpflichtet.”

„Braucht es nicht, Freund. Ein ander Mal stehst Du mir bei.”

„So soll es sein.” Damit gaben sie sich die Hände. Dann eilte Woltar wieder zu seiner schönen Braut.

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